„Ein Raum voller Türen, wo früher liebevoll dekorierte Wände waren, Gänge und Nischen. Ein Türmchen, Erker, Nischen, Balkone, Terrassen und hinreißende Ausblicke über einen Park mit uralten Bäumen auf den Starnberger See.“
So schreibt Eva Ursprung über ihre Erfahrungen als Gastkünstlerin in der Villa Walberta im Rahmen des Projekts „Next Moves“, mit Magdalena München und dem europäischen Kooperationsprojekt „Mobilise/Demobilise“.
Die Villa Waldberta in Feldafing bei München wurde 1901/02 gebaut, 1965 kam sie durch eine Stiftung in den Besitz der Stadt München. Von Anfang an war das Haus eine Begegnungsstätte für Kosmopolit:innen und Künstler:innen, geprägt von den jeweiligen Besitzer:innen – holländische Verleger, Dresdner Kunstsammler:innen, amerikanische Mäzen:innen, Kosmopolit:innen. 1943 wurde die Villa in ein Feldlazarett der Wehrmacht umgewandelt, ab 1945 wurden dort Displaced Persons (DPs) aus befreiten Konzentrationslagern untergebracht. Einer davon, Simon Schochet, schrieb die Lebensgeschichten seiner Leidensgenoss:innen auf.
Seit 1982 ist die Villa ein Künstlerhaus der Stadt München, bis 2019 geleitet von Karin Sommer, die uns die Aufzeichnungen von Simon Schochet übermittelt hat. Von Jänner bis März 2022 arbeitete ich gemeinsam mit der schwedischen Theaterregisseurin Sara Larsdotter Hallqvist als Munich-Artist-in-Residence in der Villa, angedockt an Magdalena München, einem Frauen-Theaternetzwerk um Helen Varley Jamieson. Wir wurden eingeladen, um an „Mobilise/Demobilise“ weiterzuarbeiten, das Projekt und die Plattform UpStage in München vorzustellen und weiter zu entwickeln. In den beiden Jahren davor fand der Kontakt aufgrund der Pandemie nur online statt, nun begegnete ich Sara endlich real und wir verbrachten drei Monate als Nachbarinnen in der Villa. In langen Gesprächen, auf Spaziergängen und gemeinsamen Recherchen wurden Ideen für weitere Schwerpunkte zum Thema De/Mobilisierung gesammelt.
Die Geschichte der Villa Waldberta brachte neue Aspekte zum Thema: die militärische Mobilisierung in der NS-Zeit, die Verschleppung von Menschen aus ganz Deutschland und den damals besetzten Ländern in Konzentrationslager, u.a. auch in Bayern – und wie wir bald herausfanden, auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Ein Spaziergang führte entlang von Eisenbahnschienen an einen Zaun um ein Areal der Bundeswehr mit der Warnung vor Schusswaffen. Nach mehreren Beobachtungsgängen mit Blicken und Fotos durch den Zaun entstand der Wunsch, das Gebiet von innen zu sehen.
Unsere Recherchen führten uns zu den Historiker:innen Marita Kraus und Erich Kasberger, die in einem Nachbarort leben und gerade an einem Buch zur NS-Zeit in Feldafing arbeiteten. Nun erfuhren wir, dass besagtes Militärgebiet Teil der „Reichsschule“ war, einer Eliteschule der NSDAP, davor war es ein Außenlager des KZ Dachau. Nach Einmarsch der Alliierten fanden diese am 30. April 1945 auf den Bahngleisen einen Güterzug ohne Triebwagen, gefüllt mit Überlebenden aus den KZs – der Zugführer war angesichts der sich nähernden amerikanischen Soldaten ohne Waggons weitergefahren. Die geschwächten, teilweise kranken Personen aus dem Zug konnten zum Teil nicht mehr gehen und wurden mit notdürftig zusammengebauten Rutschen über den Bahndamm in das verlassene Schulgelände gebracht und dort einquartiert. Weitere Befreite wurden in konfiszierten Villen im gesamten Ort untergebracht, u.a. auch in der Villa Waldberta, wo teilweise 50 Familien auf engstem Raum lebten. Feldafing wurde zum größten Lager für DPs (Displaced Persons) in Deutschland. Als immer mehr jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa ankamen, entstand hier das erste ausschließlich jüdische DP-Lager in der US-Zone Deutschlands. Das Zentralkomitee der befreiten Juden wurde hier gegründet, bald wurden Kinder geboren. Auf dem Schulgelände entstanden eine Synagoge, ein jüdisches Krankenhaus, ein Kindergarten und mehrere Schulen. Die Bewohner:innen gaben Zeitungen heraus, spielten Theater, machten Musik, gründeten Sportvereine und hatten sogar eine eigene Währung, den “Feldafinger Dollar”. Die meisten wollten jedoch Deutschland verlassen, viele wanderten in die USA aus. Das Lager wurde 1954 aufgelöst.
Marita Kraus vermittelte uns den Kontakt zu Hauptmann Schmidt, der in einem der Sturmblockhäuser im aktuellen Bundeswehrgelände ein Museum eingerichtet hat. Mit alter Kommunikationstechnologie (Radar, Telefone, Morsegeräte, eine Enigma Chiffriermaschine…), das Herzstück ist jedoch ein kleines DP-Museum, in das Nachfahren der Überlebenden nach wie vor Erinnerungsstücke bringen. Hier sieht man alte Fotos, Zeitungsausschnitte, Karten, Kleidungsstücke und kann sich ansatzweise ein Bild von dieser Zeit machen.
Mit neuen Informationen und neuem Blick durchforsteten wir nun die Villa Waldberta und den ganzen Ort, suchten mit alten Plänen nach Gebäuden, die von DPs bewohnt waren. In der Villa durchstöberten wir jeden Winkel und fanden alte Zeitungen, einen Überseekoffer, aber auch Relikte aus besseren Zeiten wie eine alte Schreibmaschine oder stilvolle Lampen, im Archiv fanden sich historische Fotos von der Villa und deren ehemaligen Bewohner:innen. In Internetarchiven und auf Facebook-Seiten von Überlebenden fanden wir weitere Texte und Fotos, sogar Filme.
Gemeinsam erforschten wir jeden Winkel des Hauses, lasen, recherchierten und eigneten uns den Raum an: als reale Bühne mit Fundstücken als Requisiten und den Geschichten von ehemaligen Bewohner:innen als Storyboard. Auf die virtuelle Bühne der Online-Performance-Plattform UpStage transferiert, konnte nun hier damit gearbeitet und interagiert werden.
Die Schriften von Simon Schochet waren Leitfaden und Anweisung für die Recherchen, doch danach schlossen sich die Türen: Zu den ehemaligen Bewohner:innen der Villa oder deren Nachkommen konnte kein Kontakt hergestellt werden, im Ort konnten wir nur eine Person finden, die bereit war, über die im Ort kursierenden Geschichten und die ihrer Eltern aus der NS- und DP-Zeit zu erzählen.
Viel mehr Glück hatten wir mit den Spuren von „Sisi“, die mit ihrem Hofstab gerne im jetzigen „Golfhotel Kaiserin Elisabeth“ abgestiegen war, wenn sie ihre Eltern im nahe gelegenen Schloss Possenhofen besuchte. Nach der legendären Kaiserin von Österreich waren Wege benannt, es gibt eine Statue und eine breite Palette an Souvenirs. Auch das Golfhotel war damals Teil des DP-Lagers, es fungierte als Krankenhaus. Davon ist in der umfangreichen Broschüre des Hotels jedoch nichts zu lesen und es gelang uns auch nicht, einen Gesprächstermin mit der Besitzerin zu bekommen.
Performance/Installationen in der Villa
Aus den gesammelten Erzählungen wurde unter Einbeziehung von Einrichtung, Funktionen und Architektur der Räume eine Performance durch die Villa inszeniert, mit Projektionen von historischen Fotografien und Filmen, gefundenen Materialien, kleinen Installationen, und vor allem vielen Fragen zu den feudalen Anfängen der Villa, der Zeit als temporäres Domizil für DPs bis hin zur heutigen Nutzung für die Projekte internationaler Künstler:innen.
Die hybride Performance “Next Moves” war eine hybride Performance im realen und virtuellen Raum mit Helen Varley Jamieson, Sara Larsdotter und der holländischen Künstlerin cym, die bereits an „Mobilise/Demobilise“ beteiligt war und uns zur Fortsetzung des Projekts in der Villa besucht hatte. Vor allem bei der Übersetzung von Texten aus der Zeit der holländischen Besitzer und Recherchen zur Verlegerfamilie leistete sie wertvolle Beiträge.
Im Palmenhaus vor der Villa realisierte ich gemeinsam mit Sara Larsdotter und Raquel Ro im Rahmen der Ausstellung „Sidestep, backstep, memories and moves“ eine Rauminstallation mit Plänen und Fotografien unserer Recherchen, historischen Fotografien, Textarbeiten, Lithografien, Risodrucken und gefundenen Objekten aus der Villa.
Zur Performance und zur Ausstellung kamen u.a. Bewohner:innen der Region, die nun doch weitere Informationen zum Thema lieferten. Ein weiterer Aufenthalt in der Villa wäre wünschenswert gewesen, um diese einzuarbeiten.
Jede Phase der Recherchen war von Präsentationen und Vorträgen in München begleitet, bei denen wir schrittweise die wachsende Weiterführung von „Mobilise/Demobilise“ vorstellten und in intensiver Auseinandersetzung mit dem Publikum neue Informationen und Reflexionen gewannen, die wir in unsere Arbeit einbauen konnten. Gleichzeitig konnte das interessierte Publikum so unseren Arbeitsprozess kontinuierlich mitverfolgen.
Mitten in unserer Präsentationsreihe passierte das unfassbare: Russland marschierte in der Ukraine ein und es gab wieder Krieg in Europa. Wieder mussten Menschen ihr Land verlassen, diesmal Flüchtlinge aus der Ukraine, aber auch aus Russland. Der Fokus des Diskurses wurde erweitert.
Veranstaltungen in München
Am 12. Februar 2022 fand im Kulturzentrum LUISE eine Kick Off Veranstaltung statt, an der wir Mobilise/Demobilise, UpStage sowie unsere neuen Recherchen zu „Next Moves“ präsentierten. Die Vorstellung des Projekts thematisierte zudem die Veränderungen unserer Gesellschaft durch die Pandemie und diente zur Vernetzung mit lokalen Initiativen und Interessent:innen.
Infolge dieser Präsentation wurde „Next Moves“ am Tag der Offenen Tür zu einem „Kunstclash“ in die Steindruckwerkstatt ins Künstlerhaus München eingeladen. Am 24. Februar gab es dort einen ersten künstlerischen Austausch mit Werkstattleiterin Raquel Ro, dem interessierten Publikum wurden in einer kleinen Installation und einer improvisierten UpStage-Performance die weitergeführten Rechercheergebnisse vorgestellt. Neue Kontakte wurden geknüpft, eine Besucherin konnte neue Erzählungen zur NS- und DP-Geschichte der Region beisteuern.
Am 6. März tauschten wir uns beim Next Moves Panel im Kulturzentrum LUISE mit Wissenschaftlerin Sabine Sörgel und Theaterregisseurin Christine Umpfenbach aus. Ursprünglich sollten die Auswirkungen der Pandemie diskutiert werden, welche die ursprünglichen Projektschwerpunkte Migration, Flucht und Klima in den Hintergrund gerückt hatten, nun floss auch der aktuelle Krieg in der Ukraine in den Diskurs ein.
In einer Abschlussveranstaltung von Next Moves wurde am 26 März in der Steindruckwerkstatt im Münchner Künstlerhaus mit einer Installation vor Ort und auf UpStage das gesammelte Recherchematerial präsentiert und gemeinsam mit den Besucher:innen reflektiert.
Eva Ursprung